Der Rattenfänger-Literaturpreis 2018 ging an „Krakonos“ von Wieland Freund – einen klug gebauten und temporeich erzählten Roman mit Thriller-Elementen, der eine sterile, in der unmittelbaren Zukunft angesiedelte High Tech-Welt auf höchst originelle Weise mit der deutschen Sagentradition verbindet.
Die Auszeichnung wurde am 2. November 2018 im Rahmen eines offiziellen Festaktes in Hameln übergeben.
Begründung der Jury:
Die Geschichte spielt im Berlin der unmittelbaren Zukunft. Deutschland hat sich in einen Hochsicherheitstrakt verwandelt, dessen Bürgerinnen und Bürger sich willig überwachen lassen. Nik und Levi besuchen die Qwip.com Academy, die sich, halb Kaderschmiede, halb Kinderbetreuungsdienst, um den Nachwuchs der Mitarbeitenden kümmert, die Tag und Nacht für das Internetunternehmen im Einsatz sind. Umgeben von Überwachungskameras, Monitoren und Touchscreens, wachsen die Brüder ohne Kontakt zur Natur auf.
Doch Levi zieht es mächtig hinaus ins verbotene Brachland von Berlin-Adlershof; nichts fasziniert ihn so sehr wie eine Ratte, eine Spinne, ein Baum. Nik passt auf Levi auf und begleitet ihn bei den heimlichen Streifzügen; so vermeidet er, dass sein Bruder Ärger bekommt. Bis eines Tages ein schwarz geflügeltes Wesen auftaucht, das seine Gestalt verändern kann: Es ist der Rübezahl aus der Sage, auch Krakonos genannt. Ein Sondereinsatzkommando, mit Drohnen und Soldaten, ist hinter ihm her, das alle mythischen Wesen ruhigstellen will.
Vom ersten Satz an schafft Wieland Freund eine Stimmung der digitalisierten Paranoia und der Klaustrophobie. Wie ein befreiendes Gegengift wirkt in diesem Setting die frische, schnörkellose Sprache und die Abenteuerlust der differenziert gezeichneten jugendlichen Protagonisten, die sich nicht einschüchtern lassen und wissen wollen, was die Welt außerhalb ihrer behüteten Internetblase zu bieten hat. Tatsächlich gibt es dort draußen eine Menge gut gehüteter Geheimnisse, die darauf warten, von neugierigen Jugendlichen gelüftet zu werden.
Über die Figur des Krakonos macht der Roman eine wenig bekannte Seite der deutschen Überlieferung für die phantastische Literatur fruchtbar und setzt die mit unberechenbarer Natur, mit Wind und Wetter verbundene Figur in ein spannungsvolles Verhältnis zur virtuellen Wirklichkeit, in der Kontrolle das höchste Ziel zu sein scheint. Lebendig wird der Roman nicht zuletzt durch seine atmosphärisch starke Verortung in der wirklichen Welt – in der Landschaft um Berlin und bis zum Riesengebirge.
Verwegene Gedanken, heisst es einmal im Roman, kämen zustanden, wenn man zwei sehr unterschiedliche Dinge kombiniert. Das gilt auch für „Krakonos“ selbst. Der Roman bietet eine abenteuerliche Lektüre für ältere Kinder, Jugendliche und Erwachsene, gibt Stoff zum Nachdenken – und lässt die Leserinnen und Leser eintauchen in eine ebenso unheimliche wie zauberhafte Welt.