Die Jury des 10. Rattenfänger-Literaturpreises hat den mit 5.000 Euro dotierten Preis dem historischen Jugendroman "Tanzbär" von Peter Dickinson zugesprochen. Der Preis wurde am 12. November 2004 im Rahmen eines offiziellen Festaktes in Hameln an Peter Dickinson überreicht.
Peter Dickinson erzählt eine abenteuerliche Reise- und Lebensgeschichte aus der Epoche der Völkerwanderung. Die Handlung beginnt im Jahr 558/559, am historisch verbürgten Datum eines Hunnenüberfalls auf Byzanz. In der oströmischen Kaiserstadt (dem heutigen Istanbul) mit ihren kultivierten, argumentationsfreudigen griechischen Bewohnern, theologischen Disputen um die wahre christliche Lehre und einer das Alltagsleben bis ins Kleinste regelnden Bürokratie lebt der Junge Silvester als Sklave im Haus des Fürsten Celsus. Silvester wird in der Heilkunde unterwiesen und lernt gemeinsam mit Ariadne, der Tochter des Fürsten, die lateinische Sprache. Auch betreut er die zum Tanzen abgerichtete Bärin Bubba, die am selben Tag wie Ariadne und Silvester geboren ist - die drei bleiben schicksalhaft miteinander verbunden bis ans Ende des Romans. Beim Überfall der Hunnen verlieren fast alle Bewohner des Hauses das Leben, Ariadne wird geraubt. Silvester und ein seltsamer Heiliger entkommen und begeben sich mit der Bärin auf eine gefahrvolle Reise zu den Hunnen - Silvester will Ariadne zurückholen, der Heilige will den Reiterstamm zum Christentum bekehren.
Die historische Erzählung, zugleich ein Entwicklungsroman, beeindruckt durch die farbige Darstellung der byzantinischen Lebenswelt, durch prägnante Details, psychologisch differenzierte Figurenzeichnung und freundlichen Humor in der Charakterisierung des verschrobenen Heiligen und der Bärin. Jugendliche Leser und Leserinnen finden in den Protagonisten Silvester und Ariadne vielfache Identifikationsangebote jenseits konventioneller Stereotypen. Nie wird indes die Fremdheit der vergangenen, fernen Welt zugunsten anbiedernder Vertraulichkeit nivelliert. Einen Bogen zum jungen Lesepublikum schlägt Dickinson auch mit der Figur der liebenswerten, gleichwohl nie vermenschlichten Bärin Bubba. Auf der Grundlage fundierten zoologischen Wissens und mit Zuneigung zeichnet er ihre kindliche Tollerei, Naschlust, Zärtlichkeit, ihre Anhänglichkeit und ihren Eigensinn und, bei aller Menschennähe, die unzähmbare Wildheit des Raubtiers. Mit Bubba kommen Humor und Spiel zu ihrem Recht. Henning Ahrens hat die vielschichtige, subtile Erzählung in ein angemessenes, gut lesbares und von Anglizismen freies Deutsch übersetzt.
Dickinson führt uns in eine ferne, weithin unbekannte Epoche und eine (zumindest jugendliterarisch) unerschlossene Welt an den Grenzen Europas. Die Reise des sonderbaren Trios - Heiliger, Junge, Bärin - führt von Byzanz nordwärts zur Donau, am Strom entlang bis zur "Großen Biegung", ins Donaudelta und in die Steppenlandschaft Moldawiens. Später finden Silvester und Ariadne ihre Heimat im heutigen Rumänien. Die Donau-Landschaften mit ihrem Völker- und Sprachengemisch rücken heute nach den Jahrzehnten der Spaltung Europas erst langsam wieder in unser Blickfeld. Dickinsons so lehrreicher wie unterhaltsamer, spannender und anrührender Roman macht ihre unverwechselbare Physiognomie in Umrissen sichtbar.