Die Jury des Rattenfänger-Literaturpreises 2002 kürte am 27. April 2002 aus 238 Bucheinsendungen einstimmig zum diesjährigen Preisbuch: Chadîdscha Hassan, Najim A. Mustafa, Urs Gösken: Drei Säcke voll Rosinen, 30 orientalische Märchen.
Begründung der Jury:
Drei Säcke Rosinen verspricht die Großmutter Chadîdscha ihrem kleinen Enkel Najim, nachdem sie ihm am Abend ein Märchen erzählt hat. In Vorfreude auf den kommenden Tag schläft er zufrieden und in Worten geborgen ein. "Aber er hat die Rosinen nie bekommen - dafür Märchen jede Menge!" Diese Geschichten aus seiner Kindheit hat Najim Abdallah Mustafa, der 1962 den Irak aus politischen Gründen verlassen hat und heute in Deutschland lebt, viele Jahre später in groben Zügen notiert und aus dem Rohmaterial hat Urs Gösken, der sich als Wissenschaftler und auf vielen Reisen mit dem Islam beschäftigte, diese Sammlung geschaffen. Sie umfasst dreißig irakische Märchen, die im Zweistromland und in Ländern, die an Mesopotamien grenzen, ihren Ursprung haben. Die Großmutter, die sie in den dreißiger Jahren in Bagdad erzählte, wird in diesem Buch zur lebendigen Erzählfigur, die mit wenigen formelhaften Wendungen die kurzen oder auch längeren Texte verbindet. Zugleich erfasst sie etwas aus dem Leben des Jungen, erzählt von Familie und Nachbarschaft. Wie beim mündlichen Erzählen sind so auf feine Weise Anknüpfungspunkte an realistische Bezüge gegeben.
Formeln, wie sie zum erzähltem Märchen gehören, schieben sich auch in die Buchmärchen. Maßvoll und mit viel Verständnis für die Sprache mündlich tradierter Stoffe hat Urs Gösken sie in die Texte einfließen lassen. In schlichten Sätzen, zuweilen versetzt mit direkter Rede und kleinen Versen lässt Urs Gösken die Großmutter Zauber-, Tier- und Lügenmärchen erzählen. Unter den Helden der verschiedenen Märchensorten steht häufig Dschuhâ im Mittelpunkt, der sich wie Eulenspiegel in allen Situationen zu helfen weiß.
Der Bilderreichtum und Sprachklang der ausgewählten Märchen überzeugten die Jury. Die sorgfältige Bearbeitung macht diese erste Sammlung irakischer Märchen in deutscher Sprache zu einem preiswürdigen Buch, das feinfühlig ein heiteres Bild des Islam vermittelt und trotzdem den Zauber orientalischer Stoffe aufnimmt. Fern aller Politik beweist sich die Qualität der Sammlung im selbstverständlichen Umgang mit Vertrautem und Fremdem. Die spielerisch hinzugefügten Bildzeichen von Linda Wolfsgruber unterstützen mit klaren Holzschnitten den Lesegenuss, kommentieren Weisheit, Witz und feinen Humor der Märchen. Auch als Vorlesebuch ist diese Märchensammlung - wie es im Arabischen heißt - wie "ein Garten, der in deinem Ärmel sein kann." Für die Jury: Elisabeth Hohmeister