Begründung der Jury
Der 20. Rattenfänger-Literaturpreis geht an die schwedische Kinder- und Jugendbuchautorin Frida Nilsson und ihr phantastisches Kinderbuch „Sem und Mo im Land der Lindwürmer“. Der Roman ist ein abgründiges Figurenstück über die Frage nach Gut und Böse; über die Frage der Verhältnismäßigkeit; über die Frage ‚Wer bin ich?‘; über die Frage nach Familie. Vor allem aber ist „Sem und Mo im Land der Lindwürmer“ eine großartige Abenteuererzählung, die einen Vergleich mit den kinderliterarischen Klassikern der Phantastik, etwa Astrid Lindgren oder Michael Ende, an keiner Stelle scheuen muss. In der Tradition skandinavischer Kunstmärchen und Klassiker geht der Roman in seiner philosophischen Tiefe teils weit über das hinaus, was phantastische Kinderliteratur derzeit überwiegend bietet.
Der elfjährige Samuel und sein achtjähriger Bruder Mortimer leben als Pflegekinder bei Tante Tyra, ihre Eltern wurden von einer Krankheit dahingerafft. Nachdem Tyra die beiden aus dem Waisenhaus zu sich geholt hat, müssen ihr die beiden bei der Heimarbeit helfen: In schier endlosen Stunden polieren sie Neusilber, um sich ein erbärmliches Auskommen zu sichern. Ein Auskommen, das mehr Überleben als wirklich Leben ist. Doch nicht nur lässt Tante Tyra die beiden für sich schuften und ist gewalttätig zu ihnen, sie verbietet ihnen auch ihre „wahren Namen“, Sem und Mo. So wurden sie von ihren leiblichen Eltern genannt, und diese Erinnerung, diese liebevolle Bindung will Tyra kappen. Die Verwendung dieser Namen, die damit verbundene Frage nach der eigenen Identität ist ein Leitthema des gesamten Romans. Wie beim Neusilber, das kein echtes Silber ist, geht es dabei auch um Schein und Sein.
Nachdem Tyra Mo mit einem Stock verprügelt, ergreifen die beiden die Möglichkeit zur Flucht. Diese bietet ihnen eine sprechende Ratte an und nach der Passage eines Tunnels finden sie sich in einer mittelalterlich anmutenden Gegenwelt wieder. Direkt mit dem Transfer in diese andere Welt erzeugt der Text bei der Lektüre ein tief verwurzeltes, gruseliges Unbehagen, das sich letztlich bis zu den letzten Seiten hält. Konkret wird der Ursprung dieses Gefühls schließlich, wenn die Ratte Sem und Mo zu seiner Königin führt. Indra, so ihr Name, habe sich immer schon Kinder gewünscht, mit diesem Versprechen wurden die beiden in die Welt jenseits ihrer eigenen gelockt. Aber Indra ist ein Lindwurm.
Doch trotz ihrer Monstrosität bietet Indra den beiden Waisenkindern, die sich jetzt wieder Sem und Mo nennen dürfen, ein freundlicheres Leben als die beiden seit ihrer Herkunftsfamilie hatten. Während sie sich unter der Gefolgschaft sprechender Tiere einleben, kommen dem Ich-Erzähler Sem jedoch immer mehr Zweifel an ihrer Situation. Denn Indra hat ein Geheimnis: Um ein eigenes Kind zu bekommen, muss sie das Blut eines Menschenkindes trinken. Schein und Sein zeigen sich hier wie im Neusilber erneut, auch die vermenschlichten Tiere stehen unter einem Zauber, der eigentlich eher ein Fluch ist. Meisterhaft webt Frida Nilsson durch scheinbare nebensächliche Vergleiche („Balken so dick wie Särge“) Hinweise darauf ein, dass Sem und Mo im Schloss des Lindwurms nicht so sicher sind, wie sie anfangs glauben. Die mütterliche Zuwendung des Lindwurms dient nicht den Brüdern, sondern ihrem eigenen noch ungeborenen Kind, die Freundlichkeit der Tiere mag echt sein, ist aber nur von begrenzter Zeit, weil alle auf die Rückkehr in ihr eigenes, tierisches Selbst hoffen. Sem muss so mit sich selbst aushandeln, was Wahrheit und was Lüge ist, muss selbst eine Antwort finden, ob für Menschen andere Regeln gelten sollten als für Tiere. Das die Antworten darauf nicht klar und schon gar nicht universell sind, führt Frida Nilsson im Showdown zwischen Indra und Sem deutlich vor Augen, wenn die Lindwurmkönigin fragt: „Sag mir, bin ich böse?“ Eine Antwort weiß Sem darauf nicht, Mitleid mit der Kreatur hat er dennoch.
„Die Wahrheit. So dehnbar wie die Haut meines Körpers. Ein jeder muss wohl selbst für sich herausfinden, was richtig und was falsch ist. Ist es so?“ stellt die Königin am Ende lakonisch fest. So deutlich wird die Autorin sonst nie und man kann nur vermuten, dass ihr dieser Punkt gerade für unsere Gegenwart so wichtig schien, dass sie ihn in aller Deutlichkeit ausformuliert hat. Die Jury folgte ihr sehr gerne in dieser Betonung dieses zentralen gesellschaftspolitischen Themas unserer Zeit und entschied sich einstimmig für „Sem und Mo im Land der Lindwürmer“: Die Autorin gehört zu den ganz großen Erzählstimmen der Kinderliteratur unserer Zeit.