„Sem und Mo im Land der Lindwürmer“ von Frida Nilsson

Die Stadt Hameln zeichnet die schwedische Kinder- und Jugendbuchautorin Frida Nilsson und ihr phantastisches Kinderbuch „Sem und Mo im Land der Lindwürmer“ (Gerstenberg Verlag, Hildesheim) mit dem 20. Rattenfänger-Literaturpreis aus.

Der Roman ist ein abgründiges Figurenstück über die Frage nach Gut und Böse; über die Frage der Verhältnismäßigkeit; über die Frage ‚Wer bin ich?‘; über die Frage nach Familie. Vor allem aber ist „Sem und Mo im Land der Lindwürmer“ eine großartige Abenteuererzählung, die einen Vergleich mit den kinderliterarischen Klassikern der Phantastik, etwa Astrid Lindgren oder Michael Ende, an keiner Stelle scheuen muss.

In der Tradition skandinavischer Kunstmärchen und Klassiker geht der Roman in seiner philosophischen Tiefe teils weit über das hinaus, was phantastische Kinderliteratur derzeit überwiegend bietet. Daher entschied die Jury einstimmig, „Sem und Mo im Land der Lindwürmer“ mit dem Rattenfänger-Literaturpreis 2024 auszuzeichnen und Frida Nilsson als eine der „ganz großen Erzählstimmen der Kinderliteratur unserer Zeit“ zu würdigen.

 

Der Rattenfänger-Literaturpreis wird seit 1984 von der Stadt Hameln verliehen und feiert in diesem Jahr sein 20-jähriges Bestehen. Der mit 5.000 Euro dotierte Preis würdigt herausragende Märchen- oder Sagenbücher, phantastische Erzählungen, moderne Kunstmärchen sowie mittelalterliche Geschichten für Kinder und Jugendliche. In diesem Jahr wurden 248 Werke eingereicht, was die dritthöchste Anzahl an Einreichungen in der Geschichte des Preises darstellt.

Die Preisverleihung findet am 27. September 2024 im Theater Hameln statt. Zusätzlich wurden zwölf weitere Kinder- und Jugendbücher in die Empfehlungsliste des 20. Rattenfänger-Literaturpreises aufgenommen und als besonders wertvoll ausgezeichnet.

Begründung der Jury

Der 20. Rattenfänger-Literaturpreis geht an die schwedische Kinder- und Jugendbuchautorin Frida Nilsson und ihr phantastisches Kinderbuch „Sem und Mo im Land der Lindwürmer“. Der Roman ist ein abgründiges Figurenstück über die Frage nach Gut und Böse; über die Frage der Verhältnismäßigkeit; über die Frage ‚Wer bin ich?‘; über die Frage nach Familie. Vor allem aber ist „Sem und Mo im Land der Lindwürmer“ eine großartige Abenteuererzählung, die einen Vergleich mit den kinderliterarischen Klassikern der Phantastik, etwa Astrid Lindgren oder Michael Ende, an keiner Stelle scheuen muss. In der Tradition skandinavischer Kunstmärchen und Klassiker geht der Roman in seiner philosophischen Tiefe teils weit über das hinaus, was phantastische Kinderliteratur derzeit überwiegend bietet.

Der elfjährige Samuel und sein achtjähriger Bruder Mortimer leben als Pflegekinder bei Tante Tyra, ihre Eltern wurden von einer Krankheit dahingerafft. Nachdem Tyra die beiden aus dem Waisenhaus zu sich geholt hat, müssen ihr die beiden bei der Heimarbeit helfen: In schier endlosen Stunden polieren sie Neusilber, um sich ein erbärmliches Auskommen zu sichern. Ein Auskommen, das mehr Überleben als wirklich Leben ist. Doch nicht nur lässt Tante Tyra die beiden für sich schuften und ist gewalttätig zu ihnen, sie verbietet ihnen auch ihre „wahren Namen“, Sem und Mo. So wurden sie von ihren leiblichen Eltern genannt, und diese Erinnerung, diese liebevolle Bindung will Tyra kappen. Die Verwendung dieser Namen, die damit verbundene Frage nach der eigenen Identität ist ein Leitthema des gesamten Romans. Wie beim Neusilber, das kein echtes Silber ist, geht es dabei auch um Schein und Sein.

Nachdem Tyra Mo mit einem Stock verprügelt, ergreifen die beiden die Möglichkeit zur Flucht. Diese bietet ihnen eine sprechende Ratte an und nach der Passage eines Tunnels finden sie sich in einer mittelalterlich anmutenden Gegenwelt wieder. Direkt mit dem Transfer in diese andere Welt erzeugt der Text bei der Lektüre ein tief verwurzeltes, gruseliges Unbehagen, das sich letztlich bis zu den letzten Seiten hält. Konkret wird der Ursprung dieses Gefühls schließlich, wenn die Ratte Sem und Mo zu seiner Königin führt. Indra, so ihr Name, habe sich immer schon Kinder gewünscht, mit diesem Versprechen wurden die beiden in die Welt jenseits ihrer eigenen gelockt. Aber Indra ist ein Lindwurm.

Doch trotz ihrer Monstrosität bietet Indra den beiden Waisenkindern, die sich jetzt wieder Sem und Mo nennen dürfen, ein freundlicheres Leben als die beiden seit ihrer Herkunftsfamilie hatten. Während sie sich unter der Gefolgschaft sprechender Tiere einleben, kommen dem Ich-Erzähler Sem jedoch immer mehr Zweifel an ihrer Situation. Denn Indra hat ein Geheimnis: Um ein eigenes Kind zu bekommen, muss sie das Blut eines Menschenkindes trinken. Schein und Sein zeigen sich hier wie im Neusilber erneut, auch die vermenschlichten Tiere stehen unter einem Zauber, der eigentlich eher ein Fluch ist. Meisterhaft webt Frida Nilsson durch scheinbare nebensächliche Vergleiche („Balken so dick wie Särge“) Hinweise darauf ein, dass Sem und Mo im Schloss des Lindwurms nicht so sicher sind, wie sie anfangs glauben. Die mütterliche Zuwendung des Lindwurms dient nicht den Brüdern, sondern ihrem eigenen noch ungeborenen Kind, die Freundlichkeit der Tiere mag echt sein, ist aber nur von begrenzter Zeit, weil alle auf die Rückkehr in ihr eigenes, tierisches Selbst hoffen. Sem muss so mit sich selbst aushandeln, was Wahrheit und was Lüge ist, muss selbst eine Antwort finden, ob für Menschen andere Regeln gelten sollten als für Tiere. Das die Antworten darauf nicht klar und schon gar nicht universell sind, führt Frida Nilsson im Showdown zwischen Indra und Sem deutlich vor Augen, wenn die Lindwurmkönigin fragt: „Sag mir, bin ich böse?“ Eine Antwort weiß Sem darauf nicht, Mitleid mit der Kreatur hat er dennoch.

„Die Wahrheit. So dehnbar wie die Haut meines Körpers. Ein jeder muss wohl selbst für sich herausfinden, was richtig und was falsch ist. Ist es so?“ stellt die Königin am Ende lakonisch fest. So deutlich wird die Autorin sonst nie und man kann nur vermuten, dass ihr dieser Punkt gerade für unsere Gegenwart so wichtig schien, dass sie ihn in aller Deutlichkeit ausformuliert hat. Die Jury folgte ihr sehr gerne in dieser Betonung dieses zentralen gesellschaftspolitischen Themas unserer Zeit und entschied sich einstimmig für „Sem und Mo im Land der Lindwürmer“: Die Autorin gehört zu den ganz großen Erzählstimmen der Kinderliteratur unserer Zeit.

Frida Nilsson, geb. 1979, schreibt seit 2004 äußerst erfolgreich für Kinder. Ihre Bücher, darunter die Geschichten rund um Hedvig!, wurden in viele Sprachen übersetzt und sind vielfach ausgezeichnet worden.

2019 erhielt sie den James Krüss Preis für internationale Kinder- und Jugendliteratur, 2020 wurde sie für ihren Kinderroman Sasja und das Reich jenseits des Meeres mit dem Jahres-Luchs 2019 der Wochenzeitung DIE ZEIT ausgezeichnet.

Empfehlungsliste des 20. Rattenfänger-Literaturpreises

Ideell ausgezeichnet:  
Stefan Bachmann
Die letzten Hexen von Blackbird Castle
Zürich: Diogenes 2023
Barbara Cantini
Oskar & Ophelia – Flugstunde mit Kater
München: dtv 2022
Kate DiCamillo
Die wundersame Reise der Beatryce
München: dtv 2022
Tom Gauld
Der kleine Holzroboter und die Baumstumpfprinzessin
Frankfurt am Main: Moritz Verlag 2022
Oliver Jeffers
Da ist ein Gespenst im Haus
Hamburg: von Hacht 2023
Jennifer Killick
Crater Lake: Schlaf NIEMALS ein
Hamburg: Carlsen Verlag 2023
Elizabeth Lim
Die sechs Kraniche
Hamburg: Carlsen Verlag 2022
Lars Meyer
After Dawn – Die verborgene Welt
Grevenbroich: Südpol 2022
Nils Mohl
Henny & Ponger
München: Mixtvision Mediengesellschaft 2022
Stepha Quitterer
Pepe und der Oktopus auf der Flucht vor der Müllmafia
Hildesheim : Gerstenberg Verlag 2023
Helmut Wittmann
Das große österreichische Sagenbuch
Innsbruck: Tyrolia 2022
Gregor Wolf
Etzel Zauderkern und die Macht der Wünsche
Berlin: Ueberreuter 2023
Jurymitglieder 2024  
Dr. Felix Giesa Juryvorsitzender, Literaturwissenschaftler, Aachen
Maren Bonacker freie Journalistin, Lese- und Literaturpädagogin, Wetzlar
Dr. Ben Dammers Literaturwissenschaftler, Bonn
Dr. Johannes Rüster Gymnasiallehrer, Literaturwissenschaftler, Nürnberg
Wiebke Schleser Buchhändlerin, Berlin
Doris Schneider Gymnasiallehrerin an der Elisabeth-Belling-Gesamtschule, Hameln