Begründung der Jury
Der 19. Rattenfänger-Literaturpreis geht an »Niemandsstadt«, einen Jugendroman, der Welten kollidieren lässt. Technik und Magie, Nostalgie und Futurismus, Traum und Realität, Sein und Schein, Tiefgang und Oberflächlichkeit – aus diesen Gegensatzpaaren hat Tobias Goldfarb virtuos eine sprachlich und formal experimentierfreudige Urban Fantasy gewoben, die sensibel vom Erwachsenwerden erzählt und sich gleichzeitig selbstbewusst bei den Größen des Genres einreiht.
»Manchmal weiß ich nicht genau, ob ich gerade drüben bin.« Mit diesem ersten Satz des Romans stellt sich die fünfzehnjährige Josefine, eine der beiden Protagonistinnen von »Niemandsstadt« vor: Sie kann zwischen dem uns vertrauten Berlin der Gegenwart und der titelgebenden magischen Parallelwelt wechseln. Dort umkreisen Drachen den Fernsehturm, bevölkern Vampire und Dämonen die Straßenschluchten – nur in der U-Bahn ist sie sich manchmal nicht sicher, ob der Typ im Sitz gegenüber zur Piercingmesse will oder doch einfach ein Dämon ist. Josefine nimmt diese Gabe recht gelassen hin, denn sie hat in ihrem Leben wahrlich größere Probleme: Introvertiert und intelligent, aber in ihrer körperlichen Entwicklung eher Spätzünderin, ist sie die Zielscheibe von Spott und Häme ihrer Mitschüler*innen, im Klassenzimmer wie in den sozialen Medien. Auch von ihren als Bohemiens scheiternden Eltern entfremdet sie sich zunehmend. So sitzt sie zwischen allen Stühlen und kann sich eigentlich nur ihrer besten Freundin Eli anvertrauen, die zwischen zwei ganz anderen Welten gefangen ist: Nach außen und online inszeniert sie sich souverän als selbstbewusstes und mondänes Glamourgirl, nur gegenüber Josefine (und den Leser*innen) wird deutlich, dass das eine Strategie ist, aus ihrer realen Unterprivilegiertheit zu entrinnen – und wie sehr das feinfühlige Mädchen im Grunde darunter leidet.
Die Freundschaft dieses ungleichen Paares, das anfangs nur die Zerrissenheit eint, wird auf eine harte Probe gestellt, als ein undurchsichtiger IT-Mogul die Szene betritt, der augenscheinlich nur ein hippes neues Netzwerk promoten will, dessen sinistrer Einfluss sich jedoch bis ins Parallel-Berlin zu erstrecken scheint. Bald überschlagen sich die Ereignisse: Josefine fällt in unserer Welt in ein Koma, während ihr Geist in der anderen Sphäre unterwegs ist. Eli muss einen Weg nach Drüben finden, um dort ihre Freundin zu finden und mit ihr die Welten zu retten – dabei ist nicht jeder, der ihnen auf ihren Abenteuern begegnet, wer er zu sein scheint …
»Niemandsstadt« ist ein Roman, der sich, gleich seinen Protagonistinnen, einer einfachen Kategorisierung entzieht:
Er hat eine schwebend verträumte Grundstimmung und entwickelt doch rasante Spannung.
Er schildert realistisch vielschichtige und grundsympathische Protagonisten und hantiert genüsslich und geschickt mit Stereotypen.
Er hat eine stilistische Brillanz, die von ihrer Kantigkeit und Brüchigkeit lebt.
Er schöpft aus der ganzen Bandbreite menschlicher Gefühle, zeigt Mut zum Pathos, ist sich aber auch für manch hinreißende Albernheit nicht zu schade.
Er ist ein buntschillernder Strauß an Intertextualität, und gerät doch nie in die Nähe der Pastiche. Neil Gaiman, Astrid Lindgren, Lewis Carroll, aber auch William Shakespeare, James Joyce und Jorge Luis Borges: Von deren roten Fäden ist Tobias Goldfarbs Roman durchwoben – und doch ein ganz eigenständiges Gesamtkunstwerk.
Kurzum: »Niemandsstadt« ist ein Buch, das mit beiden Füßen fest auf dem Boden der Realität steht und den Kopf genauso selbstbewusst in die Wolken reckt, ein Buch, das Jugendliche wie Erwachsene, Literaturkenner wie Seltenleser zum Träumen bringt. Die Jury möchte mit ihrem einstimmigen Votum für »Niemandsstadt« dazu beitragen, dass sich noch viel mehr Leser*innen von diesem großartigen Roman dazu verleiten lassen werden, mit Josefine und Eli sich selbst neu zu finden.